Verbreitung
Aufschieberitis ist eine Volkskrankheit. In Fachkreisen wird sie Prokrastination genannt und es gibt sogar Studien darüber. Eine hat herausgefunden, dass 95% der Menschheit gelegentlich wichtige Aufgaben vor sich herschiebt. 25% sind dem Verhalten sogar chronisch verfallen. Mit diesem Wissen fühle ich mich gleich besser und weniger allein. Denn ich gehöre definitiv nicht zu den 5% der Super-Disziplinierten.
Gerade schlägt die Aufschieberitis bei mir mal wieder voll zu: Eine Freundin erzählte mir vor zwei Monaten von einem Wochenendseminar, das sich anhörte als wäre es für mich gemacht. Ich war sofort begeistert und doch habe ich mich bisher nicht angemeldet. So langsam muss ich mich entscheiden, denn es ist nur noch eine Woche bis zu dem Termin. Warum zögere ich?
Symptome
Was passiert, wenn die Aufschieberitis mal wieder zuschlägt, ist immer ähnlich. Auslöser sind meist große, wichtige Projekte oder Entscheidungen außerhalb der Komfortzone. Ich weiß, es gibt keinen Ausweg – die Sache muss gemacht werden. Aber wirklich jetzt gleich? Oder könnte ich nicht vorher noch schnell…? Gerade kleine Dinge, die an sich nur wenig Zeit brauchen, rücken jetzt gerne in den Fokus. Ich sollte mal wieder die Fenster putzen, meine Inbox oder meinen Schreibtisch aufräumen, noch 3 Kleinigkeiten erledigen. Warum nicht jetzt? Geht doch schnell… Die andere Sache mache ich sofort danach. – So können auch mal Tage vergehen.
Eine Charakterschwäche?
Ich habe diese Aufschieberitis schon eine Weile bei mir beobachtet. Ist das eine Schwäche? Bin ich nicht zielstrebig genug? Immer wieder lese ich, dass ich gerade mit den wichtigen Dingen sofort beginnen sollte, wenn ich es zu etwas bringen will. Doch inzwischen kann ich darüber lachen. Denn ich habe sie durchschaut. Trotzdem oder gerade deshalb lasse ich mich immer wieder darauf ein und erlaube mir zu zögern.
Doch ich denke, dass das Zögern mir sogar regelmäßig hilft. Warum? Über die Jahre, die ich mit mir selbst inzwischen verbracht habe, konnte ich durchaus Vorteile für mich erkennen. Mein Hang zum Aufschieben will mir nämlich etwas mitteilen. Dabei konnte ich beim genauen Hinschauen immer eine von drei Nachrichten erkennen:
Nachricht 1: Die Sache muss noch reifen.
Als ich meine Diplomarbeit geschrieben habe, bin ich morgens meist hoch motiviert aufgestanden. Schon nach dem Frühstück fielen mir eine Menge Dinge ein, die ich unbedingt noch erledigen musste: Aufräumen, Einkaufen, Telefonate erledigen, Sport, zur Bibliothek, … Abends gegen 18 Uhr war der innere Druck bei mir deutlich angestiegen und ich setzte mich an die Arbeit. Die nächsten 6 bis 7 Stunden war ich enorm produktiv und kam gut voran. Irgendwann gewann die Müdigkeit die Oberhand und ich ging mit dem guten Vorsatz ins Bett, gleich morgen früh weiterzuarbeiten…
So ging es jeden Tag und dennoch mit gutem Ergebnis. Irgendwann erkannte ich, dass die Inhalte, die ich abends schrieb, im Laufe des Tages in mir reiften. Während ich Sachen erledigte, die zwar meinen Körper, aber nicht meinen Kopf beanspruchten, arbeite es in meinem Kopf entspannt vor sich hin. Also musste ich abends alles nur noch niederschreiben.
Heute nutze ich diese Erkenntnis. Wenn ich mich einfach nicht aufrappeln kann, mache ich bewusst Pause oder wende mich anderen Dingen zu. Oft kommt mir dann eine zündende Idee, wenn ich gerade gar nicht damit rechne. So arbeite ich deutlich produktiver, entscheide besser und bin gleichzeitig entspannter.
Nachricht 2: Die Sache macht mir Angst.
Oft weiß der Bauch ganz genau, was er will, aber der Kopf lehnt die Sache ab. Er bringt eine endlose Reihe von Argumenten vor, warum das keine gute Idee ist. Ich sollte einmal eine Rede vor etwa 200 Personen halten. Obwohl es genau mein Thema war und eine tolle Chance, konnte ich mich nicht durchringen, endgültig zuzusagen. Als ich in mich hinein hörte, merkte ich, dass ich die Chance unbedingt wahrnehmen wollte. Aber was war, wenn sich alle langweilten? Wenn ich zwischendrin den Faden verliere? Stehe ich dann nicht da wie ein Idiot? Ok, ich hatte Angst.
Also machte ich kurzen Prozess: Ich sagte zu und entkräftete meine Kopfargumente indem ich mich 120%ig vorbereitete. Ich würde also nicht den Faden verlieren und dass es nicht langweilig wurde, dafür hatte ich gesorgt. Die Präsentation war erfolgreich und brachte mir zahlreiche neue Chancen ein, die ich sonst nicht bekommen hätte.
Nachricht 3: Die Sache ist nichts für mich.
Wenn der Kopf ja sagt, aber sich trotzdem keine Begeisterung einstellen will, lohnt es sich immer, auf das eigene Bauchgefühl zu hören. Einmal stand bei mir ein Umzug an. Ich war etwas unter Druck und fand eine Wohnung, die formal allen meinen Ansprüchen genügte. Doch als ich den Mietvertrag unterschreiben sollte, ging es mir damit gar nicht gut. Ich schlief schlecht, fühlte ein Grummeln in der Magengegend, wenn ich den Vertrag zum x-ten Mal vor mir hatte. Da ich ohne Alternativen dastand, unterschrieb ich doch. Nach dem Einzug fühlte mich nie richtig wohl, fand überall Dinge, die mich störten. Schon nach wenigen Monaten machte ich mich wieder auf die Suche und zog nochmals um.
Der Bauch weiß meistens Dinge, die der Kopf nicht erkennt. Es ist immer eine gute Idee, hinzuhören, wenn der Bauch nein sagt. Meistens ist die Sache dann einfach nicht die richtige für dich. Auch wenn andere das nicht verstehen – es ist ja dein Leben.
Fazit
Wenn du das nächste Mal nicht so recht zu Potte kommst, frag einfach mal dein Bauchgefühl und deine Logik. Je nachdem, wer von beiden sich quer stellt, solltest du die Sache mutig durchziehen oder einfach sein lassen. Wenn die Signale unklar sind, dann erlaube dir, etwas abzuwarten. Vielleicht ist die Sache einfach noch nicht reif für den nächsten Schritt.
Bei meinem Wochenendseminar war die Antwort schnell klar: Die Gegenwehr kam aus dem Kopf. War es fair, meinen Mann mit den Kindern allein zu lassen? Wollte ich wirklich so weit fahren? … Die Probleme ließen sich klären und ich buchte schließlich am letzten Tag der Anmeldefrist. Und was soll ich sagen: Es war ein tolles Wochenende mit vielen spannenden Erkenntnissen über mich selbst. Und ich bin froh, dass ich mich nicht selbst aufgehalten habe.